Gioconda Belli: »Das Manuskript der Verführung« – Rezension
Danica Krunic: »Zwischen Wirklichkeit und Phantasie – Verloren auf der Suche nach der vergangenen Zeit«
»Manuel sagte, wenn ich mich auf bestimmte Bedingungen einließe, wollte er mir das Leben von Johanna von Kastillien erzählen, die ihren Mann, Philipp den Schönen, bis zum Wahnsinn liebte.«
»Was für Bedingungen?«, fragte ich.
»Ich möchte, daß Du die Szenen, die ich Dir beschreiben werde, in Deiner Fantasie mit Leben füllst, sie regelrecht vor Dir siehst und Dich hineinversetzt, dass Du für ein paar Stunden Johanna bist.«
Vom Schatten der Vergangenheit seiner Vorfahren verfolgt, stellt der Madrider Universitätsdozent, Manuel Sandoval y Rojas, Nachforschungen über das Leben und die Liebe der spanischen Königin Johanna von Kastillien (1479-1555) und Philipp dem Schönen (1478-1506) an. Johanna, heißt es, sei vor Eifersucht verrückt geworden: Diesem Mythos von »Johanna der Wahnsinnigen« bzw. »Juana la loca«, wie sie in den Geschichtsbüchern genannt wird, möchte Rojas auf den Grund gehen; er will ihre wahre Geschichte ans Tageslicht bringen.
Leidenschaftlich, ja, fast besessen taucht er ein in jene längst vergangene Zeit. Der Überlieferung möchte er seine eigene Version der Geschichte gegenüberstellen. Als Historiker und Experte für die spanische Renaissance sind ihm alle geschichtlichen Zusammenhänge und Fakten vertraut; einzig und allein die Innensicht auf die Gedanken und die Gefühlswelt Johannas bleibt ihm verschlossen. Er glaubt, daß hier der Schlüssel verborgen liege für das Verständnis des Phänomens, das diese außergewöhnliche Frau mit ihrem tragischen Schicksal darstellt.
Als Manuel für einen Freund als Fremdenführer einspringt, trifft er zufällig auf die 17jährige Lateinamerikanerin Lucía. Er soll sie und ihre Großeltern durch den Escorial führen. Es dauert nicht lange, bis er ihre auffallende Ähnlichkeit mit Johanna bemerkt: in dieser vermutet er die Lösung seines Rätsels. Er erzählt den Lateinamerikanern von seinen Studien über die spanische Thronfolgerin, über ihre hingebungsvolle Liebe und ihre rasende Eifersucht. Dann wendet er sich an Lucía mit den Worten:
»Du siehst ihr ähnlich. Sie war ein brünetter Typ und hatte schwarze Haare, genau wie Du. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der ihr so ähnelt.«
Als sie vor dem Bildnis Philipps des Schönen ankommen, bemerkt Lucía ihrerseits eine verblüffende Ähnlichkeit: diejenige Manuels mit Philipp:
»Als ich ihn vom Fenster angeleuchtet vor dem Bildnis Philipps des Schönen stehen sah, beschlich mich sogar der beunruhigende Eindruck, daß er ihm physisch ähnelte. […] Er sprach so, als wäre er damals selbst Zeuge dieser augenblicklich entbrannten Liebe geworden, die das Brautpaar veranlaßte, die Ehe noch in derselben Nacht zu vollziehen.«
Manuel erzählt weitere Details der Geschichte. Sie treffen sich noch einmal, und er macht Lucía ein ungewöhnliches Angebot:
»Ich kenne die geschichtlichen Zusammenhänge und die Fakten. Ich kann Dich in ihre Zeit zurückversetzen, in die Gerüche, die Farben und die ganze Atmosphäre von damals. Das Einzige, was meiner Erzählung fehlt, ist die Innenansicht.«
Zunächst zweifelt Lucía daran, wie sie ihm dabei behilflich sein könnte:
»Ehrlich gesagt ist mir nicht ganz klar, welche Rolle du von mir erwartest. Natürlich kann ich Spekulationen über Johannas Gefühle anstellen, aber zwischen ihr und mir liegen Welten. Jahrhunderte. Wir sind zwei Kinder aus zwei ganz unterschiedlichen Epochen. Ich wüßte nicht, wie du aus meinen Reaktionen auf ihre schließen willst.«
Doch mit Einfühlungsvermögen und psychologischem Geschick verfolgt er seine Absichten:
»Sieh das, worum ich Dich bitte, als Kunststück an, als historisches Theaterstück.«
»Es geht nicht nur um mich, weißt Du? Auch Du hast ein paar Fragen, die genauso in Johannas Leben vorkommen und die Du gerne gelöst hättest. Zum Beispiel die Sache mit der Eifersucht. Das wirst Du danach besser verstehen.«
Damit hat Manuel den wunden Kern in Lucía getroffen. Denn der ewige Kampf der Eifersucht hatte auch Folgen für Lucías Leben. Nachdem ihr Vater die Mutter betrogen hatte, gingen die Eltern auf eine Reise, um ihre Liebe zu erneuern. Das Flugzeug stürzte ab, Lucía hatte ihre Eltern verloren:
»Hätte diese Reise nicht stattgefunden, dann wären meine Eltern jetzt zwar geschieden, aber sie wären noch am Leben.«
Nach dem Tod ihrer Eltern wurde Lucía in ein Klosterinternat nach Madrid gebracht. Die zärtliche Fürsorge der Mutter Luisa Magdalena, die im selben Alter ihre Eltern verloren hatte und im Glauben Halt fand, stellt Lucías einzigen Trost dar. In einfühlsamen Gesprächen versucht die Nonne der jungen Waise das Herz zu erleichtern. Zufälligerweise erwähnt auch sie hierbei kurz nach deren Begegnung mit Manuel das tragische Schicksal Johannas:
»Was die Eifersucht angeht, so kann ich kaum etwas dazu sagen, mein Kind. Aber in Spanien hat es mal eine Prinzessin gegeben, die tatsächlich vor Eifersucht wahnsinnig geworden ist.«
Genau zu diesem Zeitpunkt entdeckt Lucía in Briefen und Aufzeichnungen ihrer Mutter, daß auch ihre eigene Mutter dagegen kämpfen mußte, aus Eifersucht den Verstand zu verlieren:
»Mein Gott, was ist nur mit mir los? Ich bin dabei, verrückt zu werden.«
Kurz nach ihrem Besuch im Escorial schickt Manuel Lucía eine Postkarte mit einem Porträt von Johanna, gemalt von Johann von Flandern. Auf die Rückseite hat er geschrieben:
»Lucía: Johanna von Kastilien war sechzehn Jahre alt, als sie Philipp den Schönen heiratete. Genauso wie Du fühlte sie sich sehr einsam in Flandern, wo sie von ihrer Familie getrennt lebte.«
Die einsame und schwärmerisch veranlagte Lucía empfindet Manuels Vorschlag als ebenso „erschreckend“ wie „verlockend“ . Tatsächlich leidet sie unter demselben Gefühl von Einsamkeit wie Johanna. Außerdem scheint der braven Klosterschülerin der attraktive Universitätsprofessor zu gefallen. So entschließt sie sich, das Experiment mit ihm zu wagen; sie ist bereit, in die Rolle der historischen Figur zu schlüpfen. Doch kann sie sich noch nicht vorstellen, wie es ihr möglich sein soll, in „Johannas Inneres zu schauen“. Daraufhin entgegnet ihr Manuel:
»Ich besitze ein Kleid im damaligen Stil. Ich hätte gerne, daß du dich wie Johanna kleidest. Ich hätte gerne, daß du dir vorstellst in ihrer Haut zu stecken, während ich dir ihre Geschichte erzähle. Und du läßt all ihre Leidenschaft in dir aufsteigen, ihre Verstörtheit. […] Meine Worte werden Johann in dir zum Leben erwecken, so daß wir beide sie kennen lernen können. Ich kann dir auch nicht sagen warum, aber vom ersten Augenblick an hatte ich das Gefühl, daß du sie verstehen würdest. Und in jedem mit dir verbrachten Moment habe ich ihre Präsenz gespürt.«
Bei heimlichen Treffen im Prado und in seiner Wohnung erzählt Manuel der jungen Frau in chronologischer Reihenfolge Episoden aus Johannas Leben. Zu Beginn einer jeden Sitzung bittet er Lucia, ihre Kleidung aus dem 20. Jahrhundert gegen ein altes rotes Samtkleid einzutauschen, um so besser in die Welt Johannas schlüpfen zu können. Mit sanfter, tiefer Stimme schafft er es tatsächlich, sie ins 15. Jahrhundert zurückzuversetzen und sie in die Persönlichkeit Johannas eintauchen zu lassen.
»Die äußere Wirklichkeit wich zurück und vor meinem inneren Auge erschien eine andere Welt. Ich kann nicht sagen, ob es das Kleid war, Manuels sanfte Stimme, die mich Johanna nannte, oder meine junge empfängliche Fantasie und die damaligen Umstände. Meine innere Stimme vervollständigte Manuels Bericht mit eigenen Einwürfen.«
Immer wieder ist Manuel erstaunt über die Ähnlichkeit der beiden Frauen.
»Ihr seid euch ähnlich. Du und Johanna, zwei junge Frauen, durch Jahrhunderte voneinander getrennt, seid euch ähnlich.«
Manuel erzählt Lucía von der stürmischen Liebesbegegnung Johannas mit ihrem Bräutigam. Doch von diesem Augenblick an beginnen Wirklichkeit und Phantasie immer weiter miteinander zu verschmelzen. Lucía wird zu Johanna, und Manuel zu Philipp. Die geistige Romanze führt zu ersten erotischen Erfahrungen. Beide ahnen, daß sie im Taumel der Gefühle selbst nicht mehr unterscheiden können, wer sie sind und welche Gefühle zu ihnen gehören und welche zu den historischen Gestalten. In Lucía flammt dieselbe Sinnenfreude auf wie damals in Johanna.
Mit sprachlicher Finesse meißelt die als sprachmächtige Lyrikerin für ihre Liebesgedichte bekannt gewordene Nicaraguanerin Gioconda Belli jedes einzelne Detail der zärtlichen Annäherung zwischen Johanna und Philipp, zwischen Lucía und Manuel heraus. Einzigartig einfühlsam und mit brennender Intensität beschreibt sie die heißblütig erotischen Abenteuer der beiden. Diese atemberaubenden Szenen lesen sich wie ein Plädoyer für die sexuelle Freiheit.
Doch Belli schwelgt nicht in Sentimentalitäten. Mit psychologischer Eindringlichkeit zeichnet sie die Entwicklung zweier zur Frau reifender starker Charaktere nach. Hierbei zeigen sich nicht nur Parallelen zwischen den beiden durch Jahrhunderte voneinander getrennten Frauen, sondern auch zwischen Lucía und Manuel in ihrer wirklichen Welt. Schon längst handelt es sich bei der Anverwandlung nicht mehr um ein wissenschaftliches Experiment. Zu sehr ist die Familiengeschichte der Marquese Sandoval y Rojas mit der Tragik Johannas von Kastilien verflochten; zu sehr hat die Vergangenheit die Gegenwart eingeholt. Zu sehr haben die eigenen Gefühle überhand genommen.
Wie auch in ihrer Gedichtsammlung »Linea de fuego« (1978) läßt Gioconda Belli mit virtuoser Metaphorik die Grenzen zwischen Realem und Surrealem verschwimmen, verschwinden. Geschickt wechselt die Autorin zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Innen- und Außenperspektive hin und her und macht so die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Phantasie durchlässig.
Am Ende ist Lucía von Manuel schwanger, und Manuel wird selbst mit einem kritischen Punkt seiner Herkunft konfrontiert. Die Story steuert unaufhaltsam auf ihr tragisches Ende zu. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Manuskript aus der Renaissance versagt die Technik der modernen Zeit. Kurz vor dem ersehnten Fund erlischt plötzlich die von den nächtelangen Suchen aufgebrauchte Batterie der Taschenlampe. Kerzen werden herbeigeschafft. Doch das alte Licht-Medium verursacht – welch Ironie! – ein Feuer und verhindert so nicht nur die Auflösung von Manuels rätselhafter Herkunft, sondern auch die Aufklärung über Johannas wirklichem Geisteszustand.
Auf sehr subtile Weise und hocherotisch gelingt es der nicaraguanischen Autorin Gioconda Belli in »Das Manuskript der Verführung«, die historischen Ereignisse einer längst vergangenen Epoche mit einer fiktiven Begebung in Madrid in den 1960er Jahren zu verweben. Vor dem Hintergrund der Unterdrückung der Frauen, der Leidenschaften und der Emanzipation entfaltet die Autorin die geschichtlichen Hintergründe der Johanna von Kastilien, die aus Staatsräson zur Ehe mit einem Vertreter des Hauses Habsburg gezwungen wurde und die, anstatt nach dem Tod ihrer Mutter, Isabella der Katholischen, den Thron zu besteigen, bis an ihr Lebensende in den kalten Gemäuern des Klosters Santa Clara in Tordessillas in der Nähe von Valladolid gefangen gehalten wurde.
Gioconda Belli thematisiert die Frage nach dem wahren Grund ihrer Gefangennahme – sei es aus machtpolitischen Gründen, sei es wegen ihres unberechenbaren Geisteszustandes – , wie er auch heute noch Gegenstand der aktuellen Forschung ist. Dabei revidiert sie das tradierte Bild von Johanna der Wahnsinnigen und läßt diese zum Inbegriff der selbstbewußten Frau avancieren. Johanna war wunderschön und von überragender Intelligenz, ihre Machtansprüche auf den Thron waren legitim und ihre Liebe war von idealer Reinheit und Leidenschaft. Obwohl sie zu Unrecht eingesperrt, ihrer Kinder und Rechte beraubt und vom Ehemann immer wieder betrogen wurde, bewahrte sie bis zum letzten Atemzug tadellose Haltung. Zwar raste sie vor Eifersucht, doch sollte dies als natürliche Reaktion verstanden werden.
Als Anhängerin der sandinistischen Befreiungsbewegung hegt Belli noch immer eine unsterbliche Hoffnung auf die Freiheit der Frau und propagiert in ihren Romanen und Gedichtsammlungen ein stärkeres Selbstbewußtsein der Frau, die sich sowohl gegen den gerade in Lateinamerika so präsenten Machismo wie auch gegen die politische Unterdrückung wenden soll. In den Worten Manuels:
»Johannas Gesicht erinnert mich an viele modernen Frauen und deren Weigerung, sich einem Leben in den engen, gesellschaftlichen Normen zu fügen und dafür ihre wahren Neigungen im Keim zu ersticken.«
Das revolutionäre Feuer ist auch darin zu spüren, daß sich in Lucía zwar das Verhalten ihrer historischen Vorbildfigur widerspiegelt, Lucía jedoch im Gegensatz zu Johanna wie auch im Gegensatz zu Manuel aufgeklärter erscheint. Sie läßt sich weder von den Konventionen einengen noch von der Vergangenheit in Beschlag nehmen. Ebenso wie auch in den Frauenfiguren ihrer vorangegangenen Romane statuiert Belli in Lucía die Schlüsselrolle der emanzipierten leidenschaftlichen Frau, die es leid ist, sich ihrer Meinungsfreiheit berauben zu lassen.
Berühmt geworden durch ihre Gedichtsammlung »Wenn du mich lieben willst« und ihre Romane »Die bewohnte Frau«, »Tochter des Vulkans«, »Waslala« und ihre Autobiographie »Die Verteidigung des Glücks« – ist Gioconda Belli heute eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen Lateinamerikas. Als weibliche Stimme Nicaraguas kämpft Gioconda Belli gemeinsam mit ihren ebenso international anerkannten nicaraguanischen Schriftstellerkollegen, dem verträumten religiös geprägten Ernesto Cardenal und dem großen Intellektuellen Sergio Ramirez für die Befreiung des Menschen von Unterdrückung und Armut. Ihr neuer Roman »Das Manuskript der Verführung« ist im September 2005 im Peter Hammer Verlag erschienen.
München, den 26. Januar 2006
Dr. Danica Krunic