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Hermann Schulz: »Wo alle sich kennen. Ernesto Cardenal feierte seinen 80. Geburtstag«

Zum 80. Geburtstag des Schriftstellern Ernesto Cardenal am 20. Januar bin ich nach Nicaragua gereist. Beim Anflug auf Managua dachte ich an meine erste Reise in dieses Land im Jahre 1969: Anastasio Somoza war der Diktator, man wusste von Gefängnissen und Unterdrückung, von Studentenunruhen und vielen Toten. Aber das interessierte damals die Weltöffentlichkeit wenig. Ebenso wenig interessiert heute die Weltöffentlichkeit, dass Nicaragua heute das Schlusslicht in Lateinamerika ist, auf gleicher Ebene wie Haiti.

In diesen sechsundreißig Jahren hat sich Nicaragua verändert, und ist doch Nicaragua geblieben. Inzwischen hat die Sandinistische Revolution stattgefunden; sie hat den Diktator verjagt und so etwas wie eine Demokratie eingeführt. Inzwischen wurden die Sandinisten abgewählt und durch bürgerliche Kräfte ersetzt, inzwischen sind die Sandinisten (soweit sie sich noch mit der Partei identifizieren) Teil dieser bürgerlichen, das heißt weitgehend korrupten Kräfte.

Wer sich erinnert, wie viele Hoffnungen sich mit Nicaragua verbunden hatten, den mag Melancholie überfallen.

Für mich sind alle diese Veränderungen im immer noch geliebten zentralamerikanischen Land mit Ideen von Gerechtigkeit und mit Personen verbunden. Die Geburtstagsfeier des „Staatsdichters“ Cardenal war eine unerwartete Gelegenheit, aus allen möglichen Lagern Freunde und Gegner wiederzusehen, hatte ich mich doch seit 1972 weitgehend für die politischen Veränderungen engagiert, um der „Revolution zu helfen“. Jetzt war ich froh, sozusagen auf neutralem Boden mit allen möglichen Menschen anlässlich der Feierlichkeiten noch einmal zusammen treffen zu können:

Im Teatro Rubén Darío verlieh der gegenwärtige Staatspräsident Bolaños Geyer dem Dichter die höchste Auszeichnung des Staates; die Musiker des Landes verhinderten mit ihren Liedern (mit Texten von nicaraguanischen Dichtern), dass die Feierlichkeit Überhand nahm. Rund fünfhundert Menschen waren zu Ehren des Dichters ins Theater gekommen. Genau so bezeichnend war, wer alles nicht gekommen war: Es fehlten alle, die um Daniel Ortega und Tomás Borge herum mit den korruptesten Kräften des Landes paktieren und ihre Schäfchen ins Trockene bringen.

Zu meiner Überraschung brachte nicht nur die (Cardenal-freundliche) Zeitung El Nuevo Diario große Artikel und Würdigungen des Dichters, sondern auch die Tageszeitung La Prensa, die in kämpferischer Opposition zu den Sandinisten Cardenal bisher eher angegriffen oder negiert hatte. La Prensa hatte zu meiner ebenso großen Überraschung nicht einen ihrer Hausautoren beauftragt, sondern einen Artikel von Dr. Sergio Ramírez zu Leben und Werk des Dichters gebracht.

Nicht nur hier war meine Weltordnung in Sachen Revolution, ja mein ganzes Lagerdenken erheblich durcheinander geraten. Ich horchte und las deshalb gespannt, wie sich der gegenwärtige Machtkampf im Lager der Sandinisten gestaltete. Im Theater hatte ich Gelegenheit, den Gegenspieler Ortegas, den klugen und vitalen Herty Levites, zu begrüßen, der die Stirn hatte, sich innerhalb der FSLN um die Präsidentschaftskandidatur zu bewerben. Natürlich lehnten Ortega und seine Freunde das ab, ohne die Parteibasis zu befragen. Aber schon die Bewerbung wirft ein Licht auf das Rumoren an der Basis – und lässt erahnen, dass Veränderungen anstehen.

Wiliam Agudelo, Hermann Schulz, Ernesto Cardenal, Dr. Horst EnglerDie private Geburtstagsfeier fand nicht wie sonst üblich im Garten des Dichters statt (der ist völlig zugewachsen!), sondern im Garten eines Hotels. Es gab kein Programm, aber viele Gespräche. Man saß plötzlich neben Carlos Tunnermann oder Violetta Chamorro, neben dem Münchner Konsul für Nicaragua Horst Engler-Hamm oder Dieter Stadler vom Dietmar-Schönherr-Projekt Casa de los tres mundos. Cardenal ließ alle diese Feierlichkeiten und Ehrungen freundlich, aber sichtlich genervt und ermüdet über sich ergehen. Er erzählte mir von den vielen Briefen aus Deutschland, auch Johannes Rau habe geschrieben – und von der schönen Idee, dass in seiner Geburtsstadt Granada ein Dichterpark gestaltet werden solle. Unter den ersten Autoren, die dort mit einer Metallskluptur geehrt werden, ist Pablo Antonio Cuadra, Cardenals Vetter und politischer Gegner; und sein Onkel José Coronel Urtecho, der vor wenigen Jahren gestorben ist.

Auch dass fast alle Dichter (und Politiker) miteinander verwandt sind in Nicaragua, gehört zu den Besonderheiten dieses liebenswerten Landes.

Wuppertal, den 10. April 2005
Hermann Schulz

 

Hermann Schulz, geboren 1938 in Ostafrika, lebt als freiberuflicher Autor in Wuppertal. Im März 2005 erhielt er den Deutschen Hörbuchpreis für „Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt“ (Hörcompany Hamburg); im August erscheint sein Roman „Leg nieder ein Herz“ (Carlsen Verlag, Hamburg)