„Ay, Nicaragua, Nicaraguita
La flor mas linda de mi querer
Abonada con la bendita
Nicaraguita, sangre de Diriangen.“
1983 hörte ich dieses Lied zum ersten Mal und nahm damals an, dass es sich um ein Liebeslied für eine Nicaraguanerin handelt. Erst viel später erfuhr ich, dass es zwar ein Liebeslied ist, aber an das Land Nicaragua gerichtet war. Damals hätte ich mir nie vorstellen können in dieses Land zu reisen. In diesem Jahr besuchte ich Nicaragua nun zum vierten Mal. Der Anlass war der 60. Geburtstag meines Bruders, der bereits über zwanzig Jahre mit seiner nicaraguanischen Frau und seinen Kindern in Managua lebt.
Ursprünglich von der DDR als Entwicklungshelfer entsandt, wurde seine Arbeit zum Aufbau einer seismologischen Infrastruktur später auch durch die Bundesregierung unterstützt. Auch nach dem Auslaufen des Projektes blieb er dort und unterstützte das Land viele Jahre als Direktor des Geophysikalischen Instituts „INETER“.
Die Reise nach Nicaragua sollte also eigentlich weniger ein touristischer als ein familiärer Besuch sein. Eigentlich. Es wurde dann aber doch wieder sehr touristisch. Unsere kleine Delegation bestand aus meiner Tochter Christine mit ihrem Freund Markus, mein Bruder Frank sowie Daniel, der extra aus der Schweiz angereist war. In drei Wochen bereisten wir das Land per Jeep, Flugzeug und Schnellboot. Das erklärt auch, dass ich, wie immer bei diesen Besuchen, kaum an Bräune gewonnen habe und der körperliche Erholungswert nur sehr begrenzt war.
Nicaragua gehört zu den ärmsten Ländern der Welt und hat in puncto Naturkatastrophen in Form von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Hurrikans und sintflutartigen Regenfällen einiges auszuhalten. Vielleicht liegt es daran, dass das Leben der Nicaraguaner mit ausgesprochener Gelassenheit, viel Optimismus und ansteckender Fröhlichkeit absolviert wird, da man gegen Naturgewalten machtlos ist und das Beste daraus machen sollte. Kommt man als Besucher in dieses Land und ist nicht nur an den reichlichen Naturschönheiten und Kunstschätzen interessiert, findet man sehr leicht Kontakt zu den Nicaraguanern. Es lohnt sich. Die Herzlichkeit und Wärme, die einem entgegengebracht wird, ist unvergleichlich. Gefeiert wird in Nicaragua oft und intensiv. Eher zufällig waren wir schon am ersten Wochenende in Massaya bei einem Fest zu dem hunderte Reiter mit ihren Pferden kamen und zu ausgelassener Musik ihre Kunststückchen zeigten. Es gab sehr viel handgemachte Musik. Daneben waren riesige Musikanlagen aufgebaut, die allesamt an der Leistungsgrenze arbeiteten. Ehrlich gesagt ging mir das doch ziemlich auf die Ohren, da man in der Nähe keine Chance zu irgendeiner Konversation hatte.
Dass es auch anders geht, haben wir bei einer kleinen Begrüßungsfeier im Haus von Ligia und Ray erlebt. Ray hat nicaraguanische und internationale Lieder gesungen. Ich habe mich dafür mit einigen eigenen Liedern bedankt. Obwohl sie deutsch nicht verstehen konnten, spürte ich, wie der Funke übersprang. Als ich zum Schluss auch noch ein Lied über Nicaragua gesungen habe, bei dem sie Worte wie Gallo Pinto, Ron (Rum) und Ortsnamen wie Managua und Massaya entdeckten, gab es kein Halten mehr. Ray hat sich spontan bereiterklärt, den Text ins Spanische zu übersetzen, damit wir die örtlichen Hitparaden stürmen. Das wurde natürlich mit einem ordentlichen Schluck Rum besiegelt.
Eigentlich ist die richtige Reisezeit in der Trockenzeit, also ab Dezember bis ins Frühjahr hinein. Leider musste sich jedoch mein Bruder bei seiner Geburt ausgerechnet die Regenzeit aussuchen. Das hatte zur Folge, dass wir es in der ersten Woche mit heftigen Regenfällen zu tun hatten, die über Stunden oder einen ganzen Tag dermaßen viel Wasser auf die Erde brachten, dass man sich fragte, wo das alles herkommt und wo es danach auch wieder bleibt.
Das Ergebnis konnten wir dann in Tipitapa sehen. Das dortige Hochwasser erinnerte mich stark an das Oderhochwasser von 1997. Allerdings müssen dort die Menschen ohne schwere Technik auskommen und können eigentlich nur darauf warten, dass der Regen irgendwann wieder aufhört. Da jedoch der Managuasee in der Zwischenzeit erheblich angestiegen ist, müssen sie sich wohl auf einige Wochen länger einrichten. Das tun sie unter anderem damit, dass sie aus der Not eine Tugend machen und in den neu entstandenen Flüssen und Seen den einen oder anderen Fisch angeln.
Nicaragua ist ein sehr schönes Land. Auf relativ kleiner Fläche finden sich gleichzeitig Vulkane, zwei große Seen, Regenwald und nicht zuletzt Zugänge zum Atlantik und zum Pazifik. Touristen mit einem Hang zum Abenteuer und Pfadfinder sind hier bestens aufgehoben. Die unbefestigten Wege zum Vulkan Cero Negro lassen jeden eingefleischten Off-Roader vor Freude hüpfen. Daniel war schnell zu überzeugen und so kämpfte er das 4×4-Gefährt über das schwere Gelände. Als Belohnung für seinen Einsatz durfte er dannauch noch auf einen Vulkan steigen, der erst vor ein paar Jahren seinen letzten Ausbruch hatte und an dessen Fuß zahlreiche metergroße Schlackebomben von den Naturgewalten zeugen.
Mit einem Geländewagen ist man aber auch gut ausgerüstet, wenn man durch die Hauptstadt Managua fährt. Nicht selten trifft man auf zwanzig Zentimeter tiefe Schlaglöcher, die Insider durch einen geschickten Schlenker auf die Nebenspur umfahren. Keine Chance hat man jedoch mit den sehr beliebten „toten Polizisten“. Es handelt sich dabei um ca. 10 cm hohe Schwellen, die dafür sorgen, dass man spätestens an dieser Stelle Schritttempo fährt oder unsanft an das Autodach geschleudert wird. Da sie teilweise nicht markiert sind und im Dunkeln nur schwer erkannt werden können, kommt man irgendwann doch in den „Genuss“ die Leistungsfähigkeit der Stoßdämpfer zu testen. Tiefergelegte Autos gibt es daher in Nicaragua nicht.
Der Orientierungssinn wird in Nicaragua auch auf eine harte Probe gestellt. Ohne GPS oder einen Ortskundigen hat man kaum eine Chance, ans Ziel zu kommen. Auf den Karten gibt es zwar einige wenige Straßennamen. Diese sind jedoch nirgends im Stadtbild zu finden. Ebenso verzichtete man fast vollständig auf Wegweiser. In solchen Fällen hilft eigentlich nur noch anhalten und Leute fragen. Nicaraguaner helfen gern weiter. Mit einem herkömmlichen Navi hat man in Nicaragua allerdings kaum eine Chance, da die Adressangeben stark von unseren Vorstellungen abweichen. Das trifft besonders auf Managua zu. Die Adressen sind eher eine Lagebeschreibung des Hauses. Die Beschreibungen beziehen sich dabei teilweise auf Gebäude, die durch das große Erdbeben von 1972 gar nicht mehr existieren. Die Adresse meines Bruders ist insgesamt 8 Zeilen lang.
Ein richtiges Stadtzentrum hat Managua seit dem Erdbeben nicht mehr. Es sind kaum historische Bauten zu finden. Die dabei stark beschädigte Kathedrale, die ich vor zehn Jahren noch besichtigen konnte, ist zwischenzeitig für Besucher gesperrt.
Die als Ersatz dafür gebaute neue Kathedrale ist ein betont hässlicher grauer Betonbau. Es wurden in den letzten Jahren zahlreiche Hotels und Einkaufszentren gebaut. Trotz des fehlenden Stadtzentrums findet man immer wieder sehr reizvolle Ecken und viele empfehlenswerte Restaurants. Das Nationalgericht der Nicaraguaner ist Gallo Pinto (angemalter Hahn). Das ist jedoch kein Fleischgericht. Es besteht im Wesentlichen aus Reis und roten Bohnen, die in der Pfanne gebraten werden. Ggf. wird dazu ein Salat aus Gurken, Tomaten und Zwiebeln gereicht. Beliebt ist auch die Verfeinerung mit mehr oder minder scharfen Soßen. Gallo Pinto gibt es zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sehr zu empfehlen sind alle Varianten von Steak. Da sich die Kühe bis zu ihrem Ableben völlig stressfrei in der freien Natur aufhalten können, schmeckt man das auch. Gern wird das Fleisch über längere Zeit in Saft der Ananas eingelegt, um es noch zarter zu machen. In Frankfurt habe ich solch gute Steaks noch nirgends gegessen. Zu unserem Lieblingsgericht gehörte aber auch frittierter Fisch. Bei einem Ausflug nach Masachapa an der Pazifikküste wurden wir mit einem sagenhaften Fischgericht verwöhnt. Man schmeckte förmlich, dass der Fisch gerade erst gefangen wurde. Im Übrigen konnten wir vom Restaurant die Fischer beim Einholen Ihres Fangs am Strand beobachten.
Natürlich mussten wir bei der Gelegenheit auch das Wasser vom Pazifik testen, das in diesen Breitengraden die richtige Temperatur für mich hat. Zu langes Baden führt allerdings mit Sicherheit zu einem Sonnenbrand, da der Äquator doch ziemlich nahe ist.
Wer nach Nicaragua fährt, muss unbedingt die Stadt Granada besuchen. Sie teilt sich mit Leon den Titel, älteste Stadt Nicaraguas zu sein. Auf alle Fälle ist sie die schönste Stadt. Hier findet man auch reichlich Spuren der Unterstützung Nicaraguas durch Deutschland und Österreich. 1987 erwarben der österreichische Filmschauspieler und Schriftsteller Dietmar Schönherr und sein Freund Ernesto Cardenal, nicaraguanischer Poet, Mönch und damaliger Kulturminister, die Casa de Los Leones, Sitz des spanischen Gouverneurs während der Kolonialzeit, in Granada, Nicaragua. Sie renovierten das Haus und eröffneten es als Kulturzentrum „Casa de los Tres Mundos“ (Haus der drei Welten). Übrigens gibt es in Granada auch ein Reisebüro mit deutscher Besatzung.
Um karibisches Flair zu erleben, muss man sich wohl oder übel auf eine etwas weitere Reise einstellen. Christine und Markus machten es sich bequem und flogen einfach nach Corn Island. Wie der Name schon sagt, ist das eine Insel, die 70 km vor der Ostküste Nicaraguas gelegen ist. Das ist das Richtige für Romantiker. So wie es sich für eine Karibikinsel gehört, gibt es Palmen an wunderschönen Stränden. Da sie nur 12 km² groß ist, ist man in gewisser Weise unter sich. Das stimmt umso mehr, wenn man außerhalb der Saison kommt.
Etwas beschwerlicher ist dann schon der Landweg an die karibische Küste. Bis zur Stadt Rama gibt es eine ziemlich gute Straße. Danach kann man sich überlegen, eine Buckelpiste zu nutzen oder auf das Schnellboot umzusteigen. Da wir ausnahmsweise mit einem PKW unterwegs waren und ich mich ehrlich gesagt auch geweigert hätte in kaum bewohntem Gelände über 100 km zu fahren, nutzten wir das Schnellboot.
Mein GPS zeigte mir eine Geschwindigkeit von fast 60km/h an. Das war allerdings nur die horizontale Geschwindigkeit. Diese wurde ziemlich unsanft durch eine schlagende vertikale Auf- und Ab-Bewegung ergänzt. Wenn das dann ohne Pause zwei Stunden lang durchgehalten wird, wirkt sich das gern so aus, dass man danach lieber stehen als sitzen will.
Mittlerweile war es pünktlich 18.00 Uhr Nacht geworden. Wir ließen uns von einem Taxi in ein „gutes Hotel“ fahren. Es war zwar sauber und ordentlich, hatte aber den Charm eines Fleischerladens. Alle Fußböden waren mit weißen Fliesen ausgestattet und die Wände durchgängig weiß gestrichen. Nach einem kleinen Gute-Nacht-Trunk legten wir uns schlafen. Am nächsten Tag sind wir in den Hafen gegangen, um auf eine vorgelagerte Halbinsel überzusetzen. Im Hafen trafen wir auf eine Auswahl der vermutlich schönsten Mädels der Ostküste Nikaraguas. Unser Single Daniel konnte gar nicht genug Fotos schießen. Allerdings traute er sich nicht, nach einer Adresse zu fragen. Sicherheitshalber haben wir dann auch noch verkündet, dass die Fotos in der deutschen Presse veröffentlicht werden. Der Strand war wieder sehr schön. Wir waren mit einem ehemaligen Kapitän allein an einem kilometerlangen Strand. In der Nebensaison bei 33 °C und strahlender Sonne geht man eben nicht baden.
Die Rückfahrt hatte neben dem markerschütternden Schnellboot auch noch einige abenteuerliche Szenen für uns parat. Dummerweise ließ sich die Sonne nicht überreden, für uns etwas später unterzugehen. Das hatte zur Folge, dass wir im Dunkeln zurückfahren mussten. Das wäre alles halb so schlimm gewesen, wenn nicht unsere Scheinwerfer die Helligkeit einer Kerze gehabt hätten und die Straße zumindest etwas markiert gewesen wäre. So gab es 5 Stunden Blindfahrt mit Überraschungen wie unbeleuchteten Fuhrwerken, einen nicht angekündigten riesigen Sandhaufen auf unserer Spur und regelmäßig Fahrzeuge ohne Beleuchtung. Nach so viel Aufregung hatten wir uns zum Abschluss unseres Urlaubs etwas Erholung verdient. Also fuhren wir noch für zwei Tage nach San Juan del Sur. Hier konnten wir ein Hotel direkt am Strand buchen. In einer ausgesprochen schönen Bucht, die beidseitig von Bergen begrenzt ist, liegt der Ort, der in den letzten Jahren sehr stark touristisch erschlossen wurde. Hier konnte ich mich mal richtig entspannen. Daniel und Frank fanden das allerdings zu langweilig. Und so besuchten sie noch die Insel Ometepe, die im Nicaraguasee liegt und durch den ausgesprochen imposanten Vulkan Concepcion gebildet wird. Nach drei Wochen voller Erlebnisse ging es dann über Miami und London wieder heimwärts. Mit im Gepäck waren natürlich wieder guter Rum und Kaffee.
Wolfgang Strauch